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Systema: Eine altrussische Kampfkunst mit mongolischen Wurzeln
Systema ist eine effektive Kampfkunst, die über ein ganzheitliches Lehr- und Trainingsprogramm verfügt, das sowohl den Körper, die Psyche, den Geist und die soziale Entwicklung fördert.
Systema ist die modernisierte Form einer altrussischen Kampfkunst, deren Ursprünge bis zu den Kosaken und Mongolen zurückreichen. Seit dem Beginn des Mittelalters waren die Kosaken die Kriegerkaste des damaligen Russlands. Sie waren die ersten Berufssoldaten, die ähnlich den japanischen Samurai die Privatarmee der Fürsten und Herrscher bildeten.
Ihre Kampfkunst, die sich ständig weiterentwickelte und verfeinerte, war weit über die Grenzen des russischen Reiches bekannt und gefürchtet. Später waren die Kosaken die Leibgarde der russischen Zaren. Als die Kommunisten am Anfang des 20. Jahrhunderts die Macht in Russland übernahmen, verschwand diese alte Kampfkunst von der Bildfläche.
Der Zar wurde erschossen und die Kosaken wurden nach und nach ausgerottet. Die Essenzen wurden dennoch erhalten und in wenigen Klöstern der russisch-orthodoxen Kirche von Nachfahren der Kosaken bewahrt.
Systema ist die moderne Version dieser Kampfkunst
Verschiedene Spezialeinheiten des Militärs machten sich die Überlieferungen der altrussischen Kampfkunst zunutze und nannten sie „Systema“, was auf Deutsch „Das System“ bedeutet.
Systema wird seit dem Ende der 70er Jahre von Michail Ryabko weltweit unterrichtet. Ryabko war selbst lange in verschiedenen Spezialeinheiten aktiv. Er sammelte viele Erfahrungen in zahlreichen Kampfeinsätzen. Später arbeitete er als Ausbilder für Nahkampf und Personenschutz für die Regierung.
Was macht Systema so effektiv?
Systema unterscheidet sich durch seine Grundprinzipien von vielen anderen Kampfkünsten. Das ist der Hauptgrund, weshalb dieses System so effektiv ist und mehr oder weniger von jedem erlernt werden kann. Im Gegensatz zu anderen Kampfkünsten gibt es bei Systema keine festgelegten Techniken, Formen und Bewegungsabläufe. Es basiert auf wirksamen Prinzipien, die jeder Ausübende individuell anwenden kann.
Wirksame Prinzipien aus dem Systema
1. Die Atmung:
Am Anfang steht die Schulung und Kontrolle der richtigen Atmung. Die Atmung ist die Grundlage des Lebens, der Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Zudem hat die Atmung einen direkten Einfluss auf unsere Psyche und Emotionen. Wer den Atem kontrollieren kann, ist in der Lage unter massivem psychischen und körperlichen Stress ruhig zu bleiben und den Überblick zu behalten.
Im Systema lernt man von Anfang an, ununterbrochen zu atmen, also niemals den Atem anzuhalten.
Oft geschieht es, dass wir vor lauter Angst oder Stress vergessen zu atmen. Dann brechen schnell körperliche Funktionen und geistige Klarheit zusammen und wir verlieren den Überblick über die Situation. Deshalb wird von Beginn an der ununterbrochene Atem geübt. Man soll durch die Nase ein- und durch den Mund ausatmen. Der Atemrhythmus passt sich unserem Bewegungsrhythmus und der Geschwindigkeit an.
2. Natürliche Körperhaltung und Bewegung:
Neben der richtigen Atmung ist der natürliche Einsatz des Körpers wichtig. Eine natürliche und entspannte Körperhaltung und ökonomische Körperbewegungen verbrauchen wenig Energie und erlauben die Entfaltung maximaler Wirksamkeit.
Viele Kampfkünste verwenden schwierige Techniken, die lange geübt werden müssen, bis sich damit effektiv kämpfen lässt. Im Systema lernt der Praktizierende, seinen Körper so natürlich wie möglich zu bewegen und seine eigenen Stärken einzusetzen.
Der Rücken sollte aufrecht und gerade gehalten werden. Kopf, Schultern, Rumpf und Becken bilden eine Einheit und werden unisono bewegt. Es findet keine Drehung in der Taille statt, wie beispielsweise beim Baguazhang oder beim Wu-Stil-Tai Chi. Das hat den Zweck eine maximale Stabilität zu gewährleisten und große Körperkraft entwickeln zu können.
Im Systema lernt man ständig in Bewegung zu sein. Auch das ist ein Unterschied zu vielen Kampfkünsten, in denen man oft in bestimmten Standpositionen verharrt. Beim Systema machen die Füße kleine Schritte und befinden sich lotrecht unter dem Körperschwerpunkt.
3. Innere Haltung:
Der innere Zustand spielt die wichtigste Rolle im Systema. Bei einem richtigen Kampf und anderen Extremsituationen ist es wichtig psychisch stabil und geistig klar zu bleiben. Angst und Panik schwächen den stärksten Kämpfer, egal wie gut die körperliche Verfassung ist. Der innere Zustand ist eine bewusst gewählte innere Haltung im Kontakt mit sich selbst, den eigenen Ängsten, der äußeren Situation sowie einem oder mehreren Gegnern gleichzeitig.
Der richtige innere Zustand ist gekennzeichnet durch innere Ruhe und psychische Stärke, die direkt mit der Atmung und der entspannten, natürlichen Körperhaltung zusammenhängen.
Wie sieht das Training von Systema aus?
1. Solotraining:
Am Anfang steht das Erlernen und Üben des richtigen Atmens und der richtigen Körperhaltung. Das wird in verschiedenen Körperpositionen wie im Stand, im Liegen, im Sitzen und in Bewegung trainiert.
Dann lernt man in Kombination mit der Atmung bestimmte Muskeln aktiv anzuspannen und wieder zu entspannen. Das schult die Koordination zwischen dem Geist, den Nervenbahnen und den Muskeln und bildet die Grundlage zu großer Kraftentfaltung. Auch das wird zuerst in Ruhe geübt und dann in Bewegung, bei bestimmten Kraftübungen wie Kniebeugen und Liegestütze.
Auch bei der Fallschule und bei verschiedenen Arten des Abrollens wird darauf geachtet, ohne Unterbrechung zu atmen und den Atemrhythmus auf die Bewegungsgeschwindigkeit abzustimmen.
Die Fallschule stellt im Systema einen sehr wichtigen Bereich dar. Sie erlaubt den Praktizierenden, sicher und ohne Verletzungsgefahr zu fallen und abzurollen. Systema legt allgemein sehr viel Wert auf eine gleichmäßige Entwicklung und Ausbildung des Körpers. Es gibt Hunderte von Körperübungen, um die Muskeln, Gelenke, Knochen, Bänder, Sehnen, das Nervensystem und das Herzkreislaufsystem zu trainieren. Meistens werden Übungen mit dem eigenen Körpergewicht, ohne Trainingsgeräte verwendet.
2. Partnertraining:
Im Partnertraining wird zuerst einmal die psychische Verfassung berücksichtigt, die im Zweikampf wichtig ist. Deshalb steht am Anfang das Beobachten der eigenen Gefühle, wenn ein potentieller Gegner auf uns zu kommt. Wichtig ist auch dann, das ununterbrochene Atmen und den inneren Zustand zu wahren.
Intensität und Geschwindigkeit der Angriffe werden nach und nach gesteigert, bis hin zu Angriffen durch mehrere Gegner zugleich und bewaffnete Angriffe. Zuerst geht es darum, sicher auszuweichen, indem man den Gegner ins Leere laufen lässt.
Dann lernt man adäquat auf körperliche Übergriffe zu reagieren, unter anderem auch Schläge zu absorbieren und sich dadurch „aufzuladen“. Durch gezieltes An- und Entspannen verschiedener Muskeln neutralisiert man so die zerstörerische Wirkung von Schlägen, Hieben und Tritten.
Im Partnertraining lernt man, selbst richtig zu schlagen und die Schläge des Gegners einzufangen und zu absorbieren. Durch das Training mit einem und mehreren Partnern entwickelt der Schüler die Fähigkeit, natürlich und ruhig auf Extremsituationen zu reagieren.
Das richtige Timing und Distanzgefühl, sowie eine Einschätzung der Kraft des Gegners entwickeln sich mit der Zeit. Am wichtigsten ist aber die Angst zu überwinden und innerlich stabil und klar zu bleiben. So direkt und effektiv habe ich das Training der psychischen Verfassung in noch keiner anderen Kampfkunst erlebt.
Zusammenfassung über die Kampfkunst Systema
1. Anstelle vorgefertigter Techniken und Bewegungsabläufe lehrt Systema uns wieder natürliche Bewegungen und Reflexe zu gebrauchen und individuelle Stärken einzusetzen. Jeder Mensch ist einzigartig und genauso einzigartig ist für jeden die beste Form der Selbstverteidigung.
2. Systema entwickelt neben der Körperkraft vor allem die innere psychische Kraft und Stabilität. Das ist sowohl im Kampf als auch in anderen Extremsituationen wichtig, um frei von Angst zu sein und den Überblick zu wahren.
3. Die Einzelübungen entwickeln den Körper und die Psyche durch die Konzentration auf den ununterbrochenen Atem und die innere Haltung. Ein unzähliges Repertoire an Körperübungen bildet die Grundlage zu körperlicher Kraft, Stabilität und Gesundheit.
4. Das Partnertraining trainiert innere Ruhe, Reaktionsvermögen, Distanzgefühl, Timing und realistische Kampfsituationen. Das Miteinander steht im Vordergrund und bietet allen die Möglichkeit zusammen die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln. Anstelle von leistungsorientiertem Kräftemessen geht es eher darum, sorgsam zusammenzuarbeiten. Der Trainingspartner wird nicht als Gegner betrachtet, sondern als Freund, der einem hilft, sich selbst zu entwickeln.
Ich persönlich bin wirklich begeistert von Systema und seinen Ansätzen und Prinzipien. Im Vergleich zu japanischen und chinesischen Kampfkünsten wirkt Systema vielleicht ein wenig unorthodox, da es keine Formen oder Katas gibt. Dadurch entsteht aber jede Menge Freiraum für die individuelle Entwicklung, sowohl der Persönlichkeit als auch der Kampffertigkeiten.
Hallo Jens,
vielen Dank für deinen Artikel. Ich interessiere mich für Systema wegen dem Aspekt auf Selbstverteidigung. Allerdings scheint es sehr viel um das Geistliche laut deinem Artikel zu gehen. Ich bin verwirrt. Die meisten Beiträge gehen nämlich mehr in die Richtung Kämpfen wie z. B. https://selbstverteidigung-beherrschen.de/systema/ Was ist denn nun korrekt?
Hallo Joseph,
in den meisten Trainings heute steht der kämpferische Aspekt sicher im Vordergrund. Was ich persönlich allerdings etwas schade finde, da ich gerade das Spirituelle an inneren Kampfkünsten sehr faszinierend finde.
Am besten einfach mal in einen Kurs hinein schauen, die Chemie zwischen Trainer und Teilnehmer sowie die Atmosphäre an sich, muss ja eh passen.
Herzliche Grüße,
Jens
Danke fuer den Artikel, Jens. Ich haette ihn mir persoenlich etwas umfangreicher gewuenscht, dass du etwas tiefer auf die besondere Art des Schlagens eingegangen waerst. Aber das stellt keine Wertung dar.
Es gibt in China und auf Okinawa KK, die einen aehnlichen Ansatz wie das Systema verfolgen. Diese Schulen gehoeren jedoch nicht zu den großen, bekannten Richtungen.
Systema beruht auf der Idee, die meiste Arbeit den Gegner machen zu lassen. Man sorgt „nur“ dafuer, dass er sich moeglichst erfolgreich selber im Weg steht oder, dass der Verteidiger die Angriffsenergie fuer sich nutzen kann. Als Grundgedanke kennt man das aus dem Judo, besser aus dem Aikido und auch aus dem Taijiquan. Diese Idee findet sich jedoch ebenfalls im Motobo Udunti aus Okinawa und im Ziranmen aus China. Ziran bedeutet Natuerlichkeit und steht hier fuer natuerliches Handeln nach dem Wuwei, also eher das Nicht Tun. System ist im Grunde das vorgelebte Wuwei.