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Hinter jeder Untugend steckt eine Tugend
Was ist das Wertequadrat nach Schulz von Thun? Für mich mehr als ein Kommunikationsmodell. Viel mehr sogar!
Mit seinem Wertequadrat, auch Entwicklungsquadrat genannt, zeigt der Psychologe und Kommunikationswissenschaftler Schulz von Thun, dass hinter jeder Tugend eine Untugend lauert und hinter jeder Untugend eine Tugend.
Indem wir das Gute hinter unseren Schwächen und das Schlechte hinter unseren Stärken erkennen, können wir mehr über uns selbst erfahren und entdecken, an welchen Stellen es Entwicklungspotenzial gibt. Außerdem können wir dann auch dem Verhalten anderer gegenüber gelassener entgegentreten.
Das Wertequadrat bietet in meinen Augen ein ganz wunderbares Tool für mehr Selbsterkenntnis und einen gelasseneren Umgang mit den eigenen Schwächen und denen anderer.
Für die meisten ist es auf den ersten Blick schwer erkennbar, dass sich hinter unerwünschten Eigenschaften wie Wut, Geiz oder Feigheit letztendlich eine Tugend bzw. Stärke verbergen soll. Man muss nur genau hinschauen, meint der Kommunikationsexperte Schulz von Thun. Dann kann man hinter jeder Tugend die dazu gehörige Schwestertugend erkennen, die man braucht, damit aus einer Tugend keine Untugend wird.
Mit seinem Wertequadrat, auch Entwicklungsquadrat genannt, lassen sich diese Zusammenhänge leicht erkennen. Denn in jedem Bösen steckt auch das Gute und in jedem Guten lauert auch das Böse.
Wenn es Dir schwer fällt, das zu glauben, dann mach doch gleich mit. Überlege Dir eine Eigenschaft, die Du an Dir nicht magst, und wende das Wertequadrat darauf an.
Ein Beispiel: Sparsamkeit – Großzügigkeit
Sparsamkeit ist eine an sich wünschenswerte Eigenschaft. Wer sparsam ist, kann gut mit Geld und materiellen Dingen umgehen, ohne diese Güter zu verschwenden. Eine Fähigkeit, die die meisten für erstrebenswert halten.
Wer allerdings zu sparsam ist, wirkt schnell geizig und knauserig. Nur in Verbindung mit einer gewissen Großzügigkeit oder der Kunst des sinnhaften Geldausgebens bleibt die Sparsamkeit eine wünschenswerte Tugend, ansonsten droht aus dem Sparer ein Geizhals zu werden.
Umgekehrt gilt natürlich das Gleiche: Die Eigenschaft der Großzügigkeit rutscht schnell in eine Art Verschwendung, wenn nicht gleichzeitig auch die Fähigkeit besteht, sparsam zu sein.
Bei den beiden Werten Sparsamkeit und Großzügigkeit handelt es sich daher nicht um unvereinbare Gegensätze, sondern um zwei Seiten einer Medaille. Das eine verrutscht ohne das andere schnell in ein nicht mehr gewünschtes Extrem (Sparsamkeit wird zu Geiz; Großzügigkeit wird zur Verschwendung).
Oben im Wertequadrat stehen die zwei an sich wertvollen Eigenschaften nur mit umgedrehten Vorzeichen. Verliert man die Balance zwischen beiden, rutscht man schnell in die unteren Extrema. Wer zu einem Extrem neigt, dem fehlt eine Prise der oberen, diagonalen Eigenschaft und fürchtet sich oftmals vor dem Abrutschen zum anderen Extrem.
Ein Beispiel: Der Sparsame fürchtet sich vor Verschwendung und hält deshalb sein Geld beieinander, während der Großzügige Geizhälse verabscheut und lieber großzügig ist als geizig zu wirken.
Der Kommunikationsexperte Schulz von Thun bezeichnet solche polaren Gegentugenden auch gerne als Schwestertugenden. (Sparsamkeit/Großzügigkeit; Vertrauen/Skepsis; Konfliktbereitschaft/Harmoniestreben usw.) Nur, wenn wir über beide Fähigkeiten verfügen bzw. in der Lage sind, eine Balance zwischen zwei Schwestertugenden herzustellen, verfügen wir über das volle Spektrum an Handlungsfreiheit und können je nach Situation angemessen agieren.
In einem Fall kann es angeraten sein, die Zügel etwas kürzer zu spannen und den Euro zweimal umzudrehen, in anderen Situationen mag es angemessen erscheinen, etwas mehr Großzügigkeit an den Tag zu legen. Ein gesundes Verhalten kann also zwischen den beiden Polen/Schwertertugenden flexibel hin und her bewegt werden. Das richtige Maß hängt dabei von den jeweiligen Anforderungen der Situation ab.
Merke: Sparsamkeit und Großzügigkeit müssen also in Balance sein, sonst rutschen sie schnell in ihre Extrema und damit unerwünschten Übertreibungen wie Geiz und Verschwendung ab.
Typisch ist jedoch, dass wir generell mehr zu der einen oder anderen Eigenschaft neigen und damit ein Ungleichgewicht in unserem Verhalten provozieren. Vielleicht tendiert der ein oder andere unter Ihnen im Allgemeinen dazu, Kosten zu sparen und nur das Notwendigste einzukaufen, andere unter Ihnen neigen eher dazu, das Geld mit vollen Händen auszugeben.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, kann uns das Wertequadrat auch als sogenanntes Entwicklungsquadrat dienen. Wenn wir unsere Schwächen im Sinne des Wertequadrats einmal näher beleuchten, wird schnell klar, in welche Richtung unsere Entwicklung zu gehen hat:
- Vom Geiz geht es diagonal hoch zur Großzügigkeit.
Der Geizhals sollte sich also im sinnhaften Geldausgeben üben. - Von der Verschwendung geht es diagonal hoch zur Sparsamkeit.
Dem Verschwenderischen täte eine Prise Sparsamkeit nicht schlecht.
Was bringt die Arbeit mit dem Wertequadrat?
1. Wertequadrat als Entwicklungsquadrat
Wie wir bereits gesehen haben, kann das Wertequadrat als Entwicklungsquadrat dienen. Wenn wir unter einer bestimmten Eigenschaft leiden oder eine Schwäche an uns entdecken, können wir mithilfe des Wertequadrats erkennen, in welche Richtung es sich zu entwickeln gilt.
Wer stets darum bemüht ist, es allen Recht zu machen und dabei seine eigenen Bedürfnisse auf der Strecke lässt, der ist gut damit beraten, einen gesunden Egoismus zu entwickeln. Und wer sich als zu dominant und kontrollsüchtig wahrnimmt, sollte sich einmal im Loslassen und Hingeben üben.
In der Kommunikationspsychologie wird das Wertequadrat nach Schulz von Thun daher verwendet, um Klienten bei ihrer Entwicklung zu unterstützen.
Wir sind nur dann ein ganzer Mensch, wenn wir aus dem vollen Potenzial von Eigenschaften schöpfen können!
Ein Anwendungsbeispiel für das Wertequadrat von Schulz von Thun
2. Wertequadrat als Chance für einen gelasseneren Umgang mit Schwächen
Außerdem hilft uns das Wertequadrat zu erkennen, dass hinter jeder Untugend oder Schwäche das Potenzial zu einer Tugend oder Stärke angelegt ist. Wer geizig ist, ist ein wenig zu sparsam; hinter jedem Tagträumer und Faulpelz verbirgt sich jemand, der es mit den an sich wertvollen Eigenschaften der Ruhe und Gelassenheit etwas zu sehr übertreibt und in jedem Sturkopf steckt jemand, der sich durchzusetzen weiß.
Wenn wir in der Lage sind, hinter jeder Untugend eine Tugend zu erkennen, kann das helfen, unsere eigenen Schwächen besser anzunehmen. Wenn wir erkennen, dass hinter einer unerwünschten Charaktereigenschaft eine an sich positive Eigenschaft angelegt ist, können wir vielleicht besser damit aufhören, uns selbst zu kritisieren.
Statt die eigene Feigheit zu beklagen, könnten wir auch die dahinter liegende Vorsicht wertschätzen.
Diesen Blickwinkel können wir natürlich auch gegenüber den Eigenschaften anderer einnehmen und damit gelassener reagieren, wenn uns etwas an dem Verhalten anderer missfällt. Schließlich wissen wir nun, dass in jeder „Schwäche“ bzw. übertriebenen Eigenschaft auch ein wertvolles Potenzial angelegt ist. Alles angeblich „Schlechte“ hat also einen positiven Kern.
So könnten wir, statt uns über das störrige Kind zu ärgern, uns auch über so viel Durchsetzungsfähigkeit bei unserem Nachwuchs freuen.
3. Wertequadrat als Hilfe bei zwischenmenschlichen Konflikten
Bei Konflikten im zwischenmenschlichen Bereich passiert es sehr leicht, dass wir unser Gegenüber kritisieren und für unseren Unmut verantwortlich machen. Der andere verkörpert für uns negative Ansichten und Eigenschaften, wohingegen wir für das Gute und Wertvolle einstehen.
Hier kann das Wertequadrat von Schulz von Thun wertvolle Dienste leisten, um mehr Gelassenheit in die Situation zu bringen, wenn gegensätzliche Standpunkte aufeinander treffen.
Ein Beispiel: Beim Thema Kindererziehung will unser Partner klare Grenzen festlegen, was unser Kind tun und lassen darf. Wir vertreten dagegen eher die Ansicht, dass ein Kind sich am besten entwickeln kann, wenn es frei und ohne viele Vorschriften von außen seine Erfahrungen sammeln kann.
Wir beschuldigen unseren Partner dann vielleicht als zu streng und Oberbefehlshaber und er befürchtet bei unserer Laissez-Faire-Haltung, dass das Kind uns schon bald auf dem Kopf herumtanzen wird.
Wertequadrat:
Mit Hilfe des Wertequadrats wird nun schnell klar, dass jeder von uns eigentlich für einen Wert auf der oberen Linie eintritt und es eigentlich nicht darum geht, den anderen zu verteufeln, indem wir ihn auf einen der unteren Untugenden verdammen. Besser wäre es, wenn wir erkennen, dass jeder von uns einen Teil der Gesamtwahrheit betont und wir uns im Optimalfall nicht widersprechen, sondern ergänzen könnten.
Denn ohne ein gewisses Maß an Vorgaben wird aus der freien Entwicklungsmöglichkeit für das Kind ganz schnell eine orientierungsloses Laissez-Faire im Sinne von „mach doch, was du willst“. Umgekehrt begünstigen zu viel Anleitung und zu viele Regeln eine starre und strenge Atmosphäre, in der das Kind zu sehr beschnitten wird.
Das Ziel eines zwischenmenschlichen Konfliktes liegt also in der Überwindung der anscheinenden Polarität, also der scheinbaren Unvereinbarkeit zweier an sich ergänzender Schwestertugenden. Die Erkenntnis, dass zwei Teilwahrheiten / Schwestertugenden im Idealfall in einem flexiblen Ergänzungsverhältnis zueinander stehen, hilft in einem Konfliktfall von der Verteufelung des anderen abzulassen und zu erkennen, dass auch unser „Gegner“ für einen wertvollen Teilaspekt eintritt.
Ganz nach dem Motto: „So gefährlich ich Deine Ansichten auch finde, muss ich doch zugeben, dass aufgrund meiner eigenen Tendenz in nur eine Richtung, ohne dich aus meiner Tugend ganz schnell eine Untugend werden könnte. Gut also, dass es Dich gibt:-)!“
Übung zum Wertequadrat nach Schulz von Thun:
Zugegeben, es ist für unseren polar geprägten Verstand nicht ganz einfach, hinter einer Tugend die dazugehörige Schwestertugend zu finden bzw. hinter zwei sich auf den ersten Blick gegensätzlichen Werten ein Ergänzungsverhältnis zu finden. Auch hier gilt: Übung macht den Meister.
Fertige doch einfach mal zu jedem der folgenden Begriffe ein Wertequadrat an, dann bekommst Du ein besseres Gespür dafür.
a) Ehrgeiz
b) Albernheit
c) Selbstaufgabe / Selbstaufopferung
Tipp: Überlege zunächst, ob es sich bei dem Begriff um eine Tugend oder eine Übertreibung/Entartung handelt. Eine Tugend kommt nach oben, eine Übertreibung nach unten (egal ob links oder rechts).
Finde dann zu einer Tugend ihre Schwestertugend und zu einer Übertreibung die angelegte Tugend.
Lösungsvorschläge:
a)
b)
c)
Du kannst das Wertequadrat nach Schulz von Thun auch für mehr Selbsterkenntnis nutzen. Überlege Dir dazu eine Deiner Stärken. Fertige dazu ein Wertequadrat an. Danach gehst Du entsprechend mit einer Deiner Schwächen vor. Durch diese Übung kannst Du einiges über Dich selbst erfahren 😉
Wie das funktioniert, kannst Du an meinem Beispiel nachvollziehen: Anwendungsbeispiel fürs Wertequadrat von Schulz von Thun (inspiriert-sein.de)
Dieser Artikel erschien ursprünglich am 19. August 2012 und wurde ergänzt und aktualisiert am 20.02.2023.
Das Wertequadrat hilft mir oft, um mir über das klar zu werden, was ich will. Denn meist weiß ich zuerst, was ich nicht mehr will.
Und mit Hilfe des Wertequadrats „stricke“ ich mich bis zum Ziel vor.
Was fehlt, ist die kritische Würdigung des Wertequadrates. Ja, es ist ein nützliches Tool unter den hier ausgeführten Aspekten. Ein Risiko liegt darin, dass man allzu leicht in die Falle „Die Wahrheit liegt in der Mitte“ tappen kann. Wirklichkeiten sind aber komplexer und man kann allzu leicht in eine völlige Wertfreiheit fallen (wertfrei=wertlos). Zur Übung bitte ein Wertequadrat mit z.B. „Philantropie“ und „Misantropie“ aufbauen.
Da beim Wertequadrat zwei WERTE nebeneinander stehen, würde es m.E. mit Misantropie nicht gehen, da dies kein Wert ist. Die Misantropie wäre für mich hier im Sinne des Modells eine abwertende Übertreibung. Der Wert über der Misantropie könnte vielleicht (Selbst-)Kritik oder Skepsis oder Herausforderung (ähnlich wie die Pole ‚fördern‘ und ‚fordern‘) sein.
Ich sehe im Wertequadrat noch den Aspekt: Selbstbild und das Bild, das andere von einem haben.
Ich fühle mich mit „Sparsamkeit“ tugendsam, andere sehen mich mit „Knauserigkeit, Geiz“ als unangenehm.
Eben: Be-Wertung desselben Denk- und Verhaltenskomplexes.
Vielen Dank für die erweiternde Sichtweise!